Allerorts Zustimmung: Ein Land sarraziniert

Sarrazinieren…klingt fast wie halluzinieren. Ist auch so ähnlich. Wir befinden uns im Jahr 2010 im aufgeklärten Deutschland und diskutieren die Thesen eines Mannes, der im Prinzip bereits zugegeben hat, dass er für manche darunter so ein paar Anleihen aus dem Reich von Tausend und einer Nacht getätigt hat. 70 Prozent aller Türken und 90 Prozent aller Araber lehnen diesen Staat ab und sind in großen Teilen weder integrationswillig noch integrationsfähig, sagt Thilo S. Woher er diese Zahl denn habe, fragte ein SZ-Reporter.

Wenn man keine Zahl hat, erklärte Sarrazin dem Reporter (…) muss »man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch«.

Also, wer als erstes in die Kreuzung einfährt hat Vorfahrt? Gesetz des Dschungels, mag man einwenden. Trotzdem finden offenbar alle viele seine Fiktionen toll – denn in Online-Foren und -Umfragen regiert derzeit ein Volkszorn, bei dem man nicht weiß, soll man gleich die Koffer packen oder warten, bis die ersten Mobs mit Mistgabeln und Fackeln durch die Stadt laufen.

Ja und ich gebe zu, ich habe das Buch „Deutschland schafft sich ab“ nicht gelesen, denn ich empfinde das was ich bisher darüber erfahren habe – halbwahre Fakten und Interpretation, die Bauchgefühl und Altherrenangst entspringen, gemischt mit einer dezent ekelerregenden Note Hobbygenetik – nicht als produktiven Impulsgeber für die Zuwanderungsdebatte. Und ich habe noch nie erlebt, dass die Beschimpfung bestimmter Menschen für die Behebung der Probleme sorgt, die mutmaßlich mit ihnen vorhanden sind. Ach ja, und NEU und revolutionär sind sie auch nicht.

Im Gegenteil kommen sie alle paar Jahre wieder: Broders „Hurra, wir kapitulieren!“  schlug genau in die gleiche selbstmitleidige Kerbe: „Wir“ sind solche armen gutmenschlichen Opfer und meinen es immer nur gut und werden dafür hinterrücks islamisiert. Die These soll ja auch bei Thilo wieder bemüht werden: In drei Generationen sprechen wir alle arabisch/türkisch und der Muezzin singt „Morning has broken“ während wir zu unchristlicher, pardon, unislamischer Zeit unsere Frauen verprügeln. Hat sich der Mann mit irgend einer Ernst zu nehmenden Migrationstheorie auseinander gesetzt? In drei Generationen spricht hier niemand mehr arabisch, die wenigsten können noch türkisch. Die Sprachen haben aus soziolinguistischer Sicht ein miserables Prestige, sie werden so gut wie nirgends unterrichtet und bald kaum noch weiter gegeben – was eigentlich jammerschade ist. Es ist wahrscheinlich, dass sie hierzulande verloren gehen – zumal es in die Türkei derzeit mehr Abwanderung gibt als Zuwanderung von dorther. Istanbul boomt und wird mehr und mehr zur Trendstadt, die Wirtschaft der Türkei blüht auf.

Oder die These, dass Intelligenz zu „50-80“ Prozent vererbt wird…sehr wissenschaftlich, klingt wie Gallileo. Ich weiß zumindest, dass es unterschiedliche Intelligenz-Theorien gibt, die sehr unterschiedliche Intelligenzen vorsehen – und kenn mich mit Psychologie und Kognitionswissenschaften kaum aus. Die IQ-Schablone ist, so weit ich weiß, ziemlich out, vielmehr streitet man sich darüber, ob so ein komplexes Phänomen wie Intelligenz überhaupt messbar ist. „Wir“ werden immer dümmer, die „undeutsche“ Unterschicht übernimmt? Das klingt mir verdächtig nach der Volkstod-Theorie, und dafür gebe man mir gerne einen Godwin-Punkt.

Aber es stimmt, ich sollte mich zurückhalten. Easy. Denn: ich habe die Schwarte noch nicht gelesen. Haben dies aber die 90 Prozent der BILD-Leser, die meinen er sei der Einzige „der dem Volk aufs Maul schaut und ihn sich als Bundeskanzler wünschen?“

Nein: Es ist nicht nur die BILD. Auch bei Plasbergs „Hart aber Fair“ waren die Zuseher aufgerufen, über Sarrazins Thesen zu richten. Satte 81 Prozent sagen Hurra.

Selbst in den Blogs von Zeit-Online (der Link ist mir verschütt gegangen) erhält er noch eine Zustimmung von 54 Prozent. Das einzige Problem, das S mit seinen Thesen auch mir verdeutlicht hat, ist die Salonfähigkeit offen rassistischer Thesen in dieser Gesellschaft. No me gusta.

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