Interview: Ein Leben ohne Geld – Wie Heidemarie Schwermer die Gesellschaft verändern möchte

Bild: http://www.heidemarieschwermer.com/

Kommt mit weniger aus. Heidemarie Schwermer. (Bild: http://www.heidemarieschwermer.com/)

Ein Leben ohne finanzielle Zwänge – wer hätte das nicht gern? Heidemarie Schwermer lebt diesen Traum. Mitte der Neunziger Jahre verschenkte die heute 70-Jährige Ostpreußin ihren gesamten Besitz und gründete einen Tauschring. Seither lebt sie geldlos – und das seit 16 Jahren. Sie arbeitet gelegentlich bei Freunden und erhält dafür freie Kost und Logis. Das kapitalistische System ist ungerecht und nicht länger tragfähig, sagt sie im Interview mit Yahoo! Nachrichten. Auswandern möchte sie aber nicht – sie will die Zustände hier verändern.

Yahoo! Nachrichten: Frau Schwermer, was besitzen Sie momentan?

Ich habe all meinen Besitz in meinem Köfferchen. Der ist ziemlich klein – wenn ich etwas Neues geschenkt bekomme, gebe ich etwas Altes aus dem Koffer weg, sonst geht er nicht zu. Das einzige, was mir an meinem Leben nicht so gefällt, ist, dass ich den immer herumschleppen muss. Ich habe auch ein Handy, das wurde mir geschenkt, die Prepaid-Karte dazu erhalte ich von Institutionen oder Gruppen, die mich für Lesungen oder Gesprächskreise einladen und mir natürlich kein weiteres Honorar zahlen, weil ich das nicht brauche. Meine Webseite macht meine Tochter.

Sie leben seit 16 Jahren ohne Geld: Was hat Sie dazu bewogen?

Heidemarie Schwermer: Die vielen Arbeits- und Obdachlosen in Dortmund. Dort habe ich 1994 einen der ersten Tauschringe der Bundesrepublik gegründet, die „Gib und Nimm“-Zentrale. In einem Tauschring  werden eigene Fähigkeiten angeboten und Dinge oder Dienstleistungen empfangen, die man benötigt, ohne dass Geld dabei eine Rolle spielt. Schon im ersten Jahr habe ich gemerkt, dass ich durch das Tauschen und Teilen selbst immer weniger Geld benötigte. Am 1. Mai 1996 habe ich dann ein Experiment begonnen: ein Jahr ohne Geld leben. Ich habe alle meine Sachen verschenkt. Daraus sind inzwischen 16 Jahre geworden.

Was haben Sie in Ihrem bürgerlichen Leben gemacht?

Ich war erst Lehrerin, dann Psychotherapeutin, später Motopädin. Ich habe viel ausprobiert.

Waren Sie in Ihrem vorherigen Leben unglücklich – dachten Sie „in meinem Leben läuft etwas falsch?“

Nicht in meinem Leben: in der Welt. Die Zustände in unserer Welt stören mich, es gibt zu viel Ungerechtigkeit. Zum Beispiel sind ganze Landstriche durch Monokulturen (Baumwollanbau) zerstört, so dass ein Großteil der Bevölkerung verhungern muss, etwa in Afrika. Dort kann nichts mehr angebaut werden. Auch die ganze Verschwendung von Ressourcen ist empörend. Ich wollte etwas ändern, und bin ständig am Weitergrübeln, was ich machen könnte..

Wie versorgen Sie sich mit Nahrung und Dingen des täglichen Gebrauchs?

Ich bin immer irgendwo, grad bin ich bei meinem Sohn für ein paar Tage, davor war ich bei einem Freund. Ich bringe mich viel ein, überall wo ich bin, mache ich Dinge, die benötigt werden. Das sind manchmal Putzarbeiten, aber auch viel psychotherapeutische Arbeit. Die meisten Menschen haben irgendwelche Probleme und freuen sich über eine fachmännische Beratung. Im Gegenzug erhalte ich Nahrung und Unterkunft.

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Ihre politische Botschaft ist: Ressourcen besser nutzen?

Genau, aber das ist nur ein Teil. Nur ein Beispiel: Neulich im Zug saß ein junger Mann hinter mir, der laut erzählte: „Ich hab ein Ticket bei dem ich eine Person immer umsonst mitnehmen darf – ich würd’s aber nie machen!“ Da dachte ich: „Schade“, weil mir ein behinderter Mann aus Österreich einfiel, ein Freund von mir. Der hat sein Leben bereichert durch die Öffnung für Fremde. Er nimmt immer jemanden mit, auch mich. Ein anderes Beispiel sind die jungen Menschen in Österreich und in Deutschland, die auf die Verschwendung im Lebensmittelbereich durch ihre Containeraktionen hinweisen.

Brauchen Sie keinen Ort, den Sie zuhause nennen können?

Nein, ich brauche keine Wohnung. Durch „Gib und Nimm“ habe ich sehr viele Menschen kennengelernt, viele darunter sind jetzt gute Freunde und Freundinnen, die mich gerne einladen. Ich fühle mich immer zuhause wo ich gerade bin.

Gab es auch einmal eine Zeit, in der Sie Hunger oder Not gelitten haben?

Es ist in einer Wohlstandsgesellschaft wie Deutschland schon schwer, Hunger zu leiden, denn irgendwie kommt man immer an Essen. Einmal allerdings habe ich ein Haus gehütet, in dem der Kühlschrank ganz leer war. Da kam eine Urangst aus dem Krieg in mir hervor, an der ich noch arbeiten musste. Eine Botschaft von mir ist nämlich, dass wir unsere Ängste anschauen und überwinden sollten.

Muss man denn vernetzt sein, um ein Leben wie das Ihre zu leben? Was machen die schüchternen Menschen?

Durch den ständigen Austausch, das Geben und Nehmen, lernen sich Menschen ja kennen. In unserem heutigen kapitalistischen System ist das nicht die Priorität. Da steht Konkurrenz und Abgrenzung an erster Stelle, nicht die Bereicherung durch die anderen. Durch die „Gib und Nimm“-Bewegung könnte hier Abhilfe geschaffen werden. Dafür haben wir bei „Gib und Nimm“ Aufkleber geschaffen – mit bestimmten Bedeutungen. Einmal stehen sie für den Wunsch, eine gerechtere Welt zu schaffen und zum anderen das Teilen zu lernen.  Wenn ich mir einen aufs Auto klebe, heißt das, ich nehme andere Menschen mit. Habe ich einen auf der Haustür, lade ich Menschen dazu ein, in dem „Gib und Nimm“-Haus für eine Zeit zu bleiben, auf dem Koffer zeigt es an, dass ich auch mit anderen reisen würde etc.

Würden Sie sich als „Antikapitalistin“ bezeichnen?

Hm, ja, doch. Das System wie es sich heute darstellt, ist nicht mehr tragbar. Wir müssen über neue Wege nachdenken. Ich glaube, ich lebe so gesehen schon die Zukunft, auch wenn ich mich nicht als Missionarin verstehe. Es gibt aber immer mehr Menschen, die neue Wege beschreiten möchten. In meiner Kindheit – in der Nachkriegszeit- habe ich am eigenen Leib mitbekommen, dass besitzlose Menschen weniger wert sind. Heute sind es Asylanten, Obdachlose, Arbeitslose, die nicht geachtet werden, weil sie nichts haben. Ich möchte nicht, dass Menschen über ihren Besitz definiert werden.

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Haben Sie sich mal gewünscht, Europa zu verlassen? Frustrieren Sie die Zustände hier nicht?

Nein, ich will nicht aussteigen, ich hätte gerne dass sich hier etwas ändert. Nach Amerika würde ich aber gerne mal reisen.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Ich bin grade an einem Punkt, wo ich über Neues nachdenke. Vorträge, Talkshows und andere Dinge möchte ich nicht mehr machen wie bisher. Jetzt würde ich gerne „Gib und Nimm“ mit Institutionen zusammenbringen, es breiter aufstellen, noch mehr Menschen animieren. Es gibt auf jeden Fall viel zu tun.

Heidemarie Schwermer wurde 1942 in Memel, damals Ostpreussen, heute Litauen geboren und musste mit zwei Jahren aus ihrer Heimat flüchten. Die studierte Lehrerin und Psychotherapeutin entschloss sich 1996, nahezu komplett ohne Geld zu leben. Ihre geringe Pension verschenkt sie, ebenso wie die Erlöse ihrer zwei Bücher „Wunderwelt ohne Geld“ und „Das Sterntalerexperiment“. Seit kurzem gibt es einen Dokumentarfilm über Heidemarie Schwermer – „living without money“.

Erschienen auf Yahoo! Finance am 21. Juni 2012

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