Experteninterview: „Breivik eher nicht schuldfähig“

Oslo am Tag des Anschlags (Bild: lizenzfrei/Wikipedia)

Oslo am Tag des Anschlags (Bild: lizenzfrei/Wikipedia)

Schuldig oder nicht? Für das Osloer Gericht, das diese Woche den Massenmord von Anders Behring Breivik verhandeln soll, stellt sich diese Frage nicht. Der Norweger hat alle Morde zugegeben. Angesichts der kalten Brutalität, mit der der Rechtsextremist  77 Menschen hinrichtete, steht vielmehr die Frage „schuldfähig oder nicht?“ im Vordergrund – zu wahnsinnig erscheint seine Tat. Bisherige Gutachten waren jedoch uneins:  im vergangenen Jahr attestierten ihm Psychiater Schizophrenie und damit Schuldunfähigkeit. Ein jüngst erschienenes Gutachten hingegen sieht Breivik als schuldfähig an. Gemeinsam mit dem Berliner Psychologie-Professor Peter Walschburger versucht Yahoo! Nachrichten, die Frage zu ergründen.

Yahoo! Nachrichten: Herr Professor Walschburger, Anders Behring Breivik hat 77 Menschen umgebracht. Was könnte dieser Mensch anderes sein als wahnsinnig?

Professor Peter Walschburger: Gute Frage. Das ist eines der größten Probleme bei der Frage nach Schuldfähigkeit oder nicht. Breivik ist aus allen menschlichen Vernunftsmaßstäben und Gesetzen der Menschlichkeit ausgebrochen. Es gibt genug Anhaltspunkte, ihn als verrückt zu bezeichnen. Vor Gericht reicht dies natürlich nicht aus.

Breivik sah sich selbst als Tempelritter, wollte „Zuchtzentren“ für „reinrassige Norweger“.

Ja, weitab aller menschlicher Vernunft. Er ist jetzt bestrebt, nicht als „Irrer“ abgestempelt zu werden, sondern er möchte beweisen, dass er Recht hatte. Sein Beharren auf seiner Position, seine Unvermögen, das menschliche Leid, das er verursacht, zu begreifen, spricht dafür, dass er sehr schwer gestört ist. Ein deutscher Psychiater, der zu Breivik befragt wurde, war eher der Überzeugung, dass er eine massive psychotische Störung hat, die planvolles Handeln erlaubt – und nicht schizophren ist. Er wäre dann besessen von einer sogenannten überwertigen Idee, die er bis zum Wahn und komplett abseits von menschlicher Moral verfolgt. Er ist aber durchaus fähig dazu, geplant zu handeln, also etwa hier, massenhaft Menschen umzubringen. Aufgrund seiner intelligenten Planungsleistung fiel es den Gutachtern jüngst schwer, ihn schlicht als verrückt oder schizophren zu bezeichnen.

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Können Schizophrene diese Planungen denn nicht leisten?

Nein, das ist äußerst selten. Schizophrene fühlen sich einer äußeren Macht verpflichtet, folgen einer höheren Eingebung, hören Stimmen und halluzinieren. Sie wehren sich gegen erdachte fremde Mächte oder Spione oder derartiges, Dinge die es für die Außenwelt nicht gibt, sie aber tatsächlich vor ihrem geistigen Auge sehen. Zu solch logistischen Anstrengungen wie Breivik sie geleistet hat, sind sie normalerweise nicht in der Lage.

Das klingt, als gäbe es harte Kriterien für Schizophrenie. Im November 2011 urteilte ein Gutachten allerdings doch, Breivik sei schizophren und daher schuldunfähig. Wird denn eine paranoide Schizophrenie mal so ganz ohne Not attestiert?

Nein, das natürlich nicht. Die Psychiater suchen nach Anzeichen für Krankheiten, die in einem allgemein akzeptierten Diagnosesystem klassifiziert sind. In der Psychopathologie gibt es sehr viele Möglichkeiten, wie eine Idee „überwertig“ werden kann, also zum alles dominierenden Lebensmotiv. Sogar die Liebe zu einer Person kann derart übersteigert gelebt werden – bis hin zum Stalking oder zum Mord. Da allerdings besteht oft nach der Tat Reue, die es bei Breivik nicht gibt. Das spricht eher für eine Schizophrenie. Dazu passt auch, dass er nicht von Fanatikern seiner Couleur umgeben war – er war Einzeltäter, hat isoliert von anderen Menschen planhaft und massenhaft gemordet.Ich möchte nur sagen: Die Psychiater haben es nicht leicht, die Anzeichen sind nicht eindeutig.

Aber war das mit den Gutachten nicht dennoch ein wenig seltsam? Es gab ein erstes Gutachten, das Breivik Schuldunfähigkeit attestiert – und das dann umgehend von den Angehörigen der Opfer kritisiert wurde. Dann gab es eben ein Zweites, das etwas anderes festgestellt hat.

Nun ja: Es ist mit Sicherheit theoretisch wünschenswert, dass Gutachter gesellschaftlich abgeschottet und ohne Einfluss der Öffentlichkeit urteilen. Aber in Realität funktioniert es nicht – die Gutachter spüren auch den Druck der Gesellschaft und der Angehörigen, die leiden und völlig am Boden zerstört sind. Und die wollen natürlich die Person auch schuldig sehen, die ja auch Ursache für ihr Leid ist. So etwas fließt natürlich auch mit ein.

Interessant ist an dem Fall, dass Breivik sich selbst auch als schuldfähig ansieht. Der Täter und die Angehörigen der Opfer wollen diesbezüglich tatsächlich dasselbe.

Ja, ein bemerkenswerter Sonderfall. Ändern wird es de facto nichts – ob Breivik in die geschlossene Psychiatrie kommt oder für 21 Jahre ins Gefängnis mit Sicherungsverwahrung danach, er wird aller Voraussicht nach nicht mehr in Freiheit leben können. Läuterung ist bei ihm nicht abzusehen.

Sehen Sie Breivik als schuldfähig an?

Eher nicht. Sein Beharren auf seiner Position und sein Mangel an Einsicht sprechen eher für seine Nichtschuldfähigkeit. Der Mann hat eine massive Störung, einen Fehler im Erkenntnisapparat. Es gibt ja Personen, die zu Emotionen nicht in der Lage sind – kaltblütige, emotionsarme Killer. Das ist Breivik aber nicht – er hat nach der Tat gegrinst. Er ist so abseits jeden menschlichen Einfühlungsvermögens, dass ich ihn nahe an der Schizophrenie sehe.

Prof. Dr. Peter Walschburger lehrt am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Institut für Biopsychologie, der Freien Universität Berlin (Bild: Freie Universität Berlin)

 

 

 

Erschienen auf Yahoo! Nachrichten

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